2. Schrift (Teil 4)

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Auch wenn ich Zeichen nur für mich selbst vereinbare – was etwa der Fall ist, wenn ich ein Computerprogramm schreibe und dabei in der Terminologie der Computersprache Variablen „vereinbare“, indem ich deren Namen festlege -, muss ich die Form der Zeichenkörper wählen und praktisch in einem Material verwirklichen. Für ein gegebenes Referenzobjekt kann ich also beliebige Zeichen verwenden, die dann – wie unterschiedlich sie auch sein mögen -, auf dasselbe Objekt verweisen.

Ich kann etwa eine Lochkarte an bestimmten Stellen lochen und damit auf dasselbe Objekt verweisen wie mit der Schriftzeichenkette „Tisch“, die ich als Tintenstruktur herstelle. Ich kann dann ein Tabelle herstellen, in welcher ich die verschiedenen Zeichenkörper, die dasselbe bedeuten, einander zuordne, indem ich sie in dieselbe Zeile der Tabelle schreibe. Ich bezeichne eine derartige Trosetteabelle als Code. Der Stein von Rosette ist in diesem Sinne ein unsortierter Code, der als Grundlage für einen Code benutzt wurde, in welchem bestimmten Hieroglyphen Zeichen aus zwei anderen Schriften zugeordnet wurden.

Als Codieren bezeichne ich nicht das Herstellen sondern das Verwenden eines Codes. Wenn ich schreibe, weiss ich immer, dass ich auch ganz andere Texte herstellen könnte, die dasselbe Referenzobjekt hätten. Ich könnte immer auch Lochkarten lochen und kann deshalb jeden Text als Codierung eines anderen Textes sehen. In der Computerprogrammierung wird in diesem umgangssprachlichen Sinn beim Programmieren von Codieren gesprochen, weil quasi mitgemeint wird, dass der Computer nur „0“ und „1“ verstehe, was seinerseits umgangssprachlicher Un-Sinn ist – solange Computer Maschinen sind und deshalb gar nichts verstehen.

Einer meiner Lieblingscode ist ein Buch, das Oxford-Duden heisst und ein Bild-Wörterbuch ist, in welchem den deutschen Wörtern eine Zeichnung und ein englisches Wort zugeordnet ist. Das Wort „Freiheit“ ist in diesem Buch nicht zu finden, Freiheitsdressur ist mit einem Bild verknüpft, das einen Mann mit Peitsche zeigt, der ein Pferd in einer Zirkusmanege managt. Nebenbei, die Übersetzung lautet „performance by liberty horses“, was zeigt, dass auch sehr bildwoerterbuch1viele Codes zu denselben Schriften möglich sind. In einer etwas entwickelteren Sichtweise könnte jeder Code als Kondensierung einer jeweiligen Zuordnung gesehen werden, die ein Schreibender gerade verwendet.

Ein spezieller Code verbindet eigentliche Zeichen mit vermeintlich gesprochenen Lauten, wobei ich die Laute ja nicht in eine Tabelle schreiben kann. Eine pragmatische Lösung besteht darin, Zeichen für Laute zu vereinbaren, indem die Zeichen operativ an das Sprechen des Lesers der Tabelle geknüpft werden, wobei der Leser typische Wörter aussprechen und sich selbst zuhören muss. Diese Technik bezeichne ich als Phonetik. Allerdings herrscht auch diesbezüglich viel Sprachwirrwarr. Oft wird die Phonetik, die sich mit die den lautlichen Aspekten der gesprochenen Sprachen, also die materiellen Eigenschaften mündlicher Äusserungen, befasst, mit der Phonologie verwechselt, die sich mit den semantischen Aspekten von Lauten innerhalb einer Sprache befasst. Das „Internationales Phonetisches Alphabet“ wird als Alphabet statt als Code bezeichnet.

Während die Phonetik einen praktischen Bedarf vor allem in Wörterbüchern und noch mehr beim automatisierten Vorlesen durch Maschinen deckt,  befasst sich die Phonologie als Lehre mit semantischen Aspekten von Lauten innerhalb einer Sprache. Die Phonologie repräsentiert die Commonsense-Vorstellung, wonach Schrift zur Bewahrung und Weitergabe von gesprochener Information dient. Dieser Vorstellung zu Folge könnte ich nur schreiben, wenn ich zuerst gesprochen hätte oder die Information in irgendeiner anderen „Codierung“ vorliegen hätte. Aufgrund dieser vorausgesetzten Annahme werden Schriftzeichen auf Laute bezogen, weil bei bestimmten Schriften entsprechende Korrelationen bestehen. Die chinesische Schrift ist ein Gegenbeispiel. Aber ich brauche  keine Gegenbeispiele, um mir vorzustellen, dass ich auch schreiben könnte, wenn ich nicht sprechen könnte.

Dass ich so sprechen kann, wie ich sprechen kann, ist an bestimmte körperliche Eigenschaften gebunden, die es mir erlauben, verschiedene Laute verschieden zu artikulieren. Ich kann beispielsweise meine Kehlkopfmuskeln oder Stimmbänder hinreichend frei und koordiniert bewegen, um so eine beachtliche Zahl an gewünschten Geräuschen zu erzeugen. Es sind auch körperliche Eigenschaften, die mir das Schreiben mit einem Bleistift ermöglichen. Schreiben könnte ich unter den gegebene Voraussetzung auch, wenn ich nicht sprechen könnte. Mein Bedürfnis zu schreiben, wäre auch vorhanden, wenn mir die Voraussetzungen zum Sprechen – wie etwa den Menschenaffen – fehlen würden. Dass die Chinesen eine Schrift entwickelt haben, die nicht dem Sprechen folgt, zeigt, dass ich auch eine Schrift entwickeln kann, wenn ich gar nicht sprechen kann.

Ich neige sogar zur Annahme, dass Sprechen eher ein Behelf darstellt für Situationen, in welchen das Schreiben aus praktischen Gründen zu umständlich ist, beispielsweise zu viel Zeit in Anspruch nimmt. Unter bestimmten restringierten Bedingungen und Hinsichten ist Sprechen und Schreiben äquivalent, weshalb sie umgangssprachlich von einer sogenannten „phonetische Codierungen“ gesprochen wird.

Als „phonetischen“ Code bezeichne ich etwas, was der Sache nach nicht möglich ist, wenn Code für eine Tabelle steht. In einer Tabelle kann ich nur Zeichen, aber keine Laute eintragen. Die gleiche Unmöglichkeit gilt natürlich auch für eine Lautschrift. Eine pragmatische Lösung besteht darin, Zeichen für Laute zu vereinbaren, indem die Zeichen operativ an das Sprechen des Lesers der Tabelle geknüpft werden, wobei der Leser typische Wörter aussprechen und sich selbst zuhören muss. Den Ausdruck Phonetik verwende ich in diesem Sinne für die bewusst reflektierte Kontingenz von lautlichen Aspekten beim Sprechen, also für die Beschreibung materieller Eigenschaften mündlicher Äusserungen.

Als Handwerk im engeren Sinne begreife ich das Herstellen von Artefakten, also nicht das Produzieren von Geräuschen oder Signalen. Wenn ich schreibe, stelle ich Artefakte her, wenn ich spreche erzeuge ich Schallwellen. Die geschriebenen Artefakte dienen der Erzeugung von optischen Signalen. Ich kann auch optische Signal erzeugen, ohne dass ich Artefakte verwende. Ich kann beispielsweise winken oder ein paar gängige Gesten verwenden. winkeralphabetIch kann aber auch das Winkeralphabet verwenden, was Seeleute bis vor kurzer Zeit getan haben. In diesen Fallen benutze ich meinen eigenen Körper um Zeichen oder Schriftzeichen darzustellen. Und wenn ich spreche, benutze ich auch meinen Körper, um Signale in Form von Schallwellen zu erzeugen, was ich auch mit technischen Hilfsmitteln wie Lautsprechern tun kann.

In diesen Fällen benutze ich meinen Körper, wie wenn ich mit dem Finger schreibe, technologisch primitiv anstelle eines Werkzeuges. Wenn ich gemäss dem Winkercode mittels meiner Armstellungen Buchstaben darstelle, verfüge ich über ein Alphabet, aber weder über Material für Text noch über Schreibwerkzeuge. Ich kann dann sozusagen schreiben, weil ich körperlich eine Schrift imitieren kann. Und wenn ich spreche, imitiere ich das Schreiben noch etwas vermittelter, weil ich einen phonetischen Code unterstelle.

Wenn ich normal spreche, erzeuge ich eine kontinuierliche Geräuschfolge, in welcher keine einzelnen Wörter markiert sind. Als Hörer von gesprochener Sprache muss ich die Wörter als solche abgrenzend erkennen. Darin sehe ich einen Grund dafür, dass ich Fremdsprachen beim Lesen besser verstehen kann als beim Hören. Beim Lesen sehe ich die Wörter.

Wenn ich vorlese, also lesend spreche, nehme ich die Signale wahr, die durch den geschriebenen Text in meine Augen fallen. Ich könnte in einer Art zeichen2optischen Telegraphie – worauf ich später noch genauer eingehen werde – die Schriftzeichen mit meinem Körper darstellen. Dazu müsste ich den Text in keiner Weise verstehen, weil ich nur einen Code anwenden würde. Und wenn ich über einen phonetischen Code verfüge, kann ich die Schriftzeichen in entsprechende Laute umwandeln. Auch dabei muss ich den Text weder verstehen noch interpretieren. Ich verhalte mich dann so wie ein leseunkundiger Mönch, der im Skriptorium Bücher abschreibt. Wenn ich das Winkeralphabet verwende erzeuge ich optische Signale, beim Sprechen erzeuge ich akustische Signale. In beiden Fällen sind die Signale durch die verwendeten Codes an die Signale gebunden, die durch den geschriebenen Text erzeugt werden.

Sprechen ist in diesem Sinne die primitivste Form einer Produktion von flüchtigem Quasi-Text.

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last update 21.3.2015 / 22. 3.2015

60 Antworten zu “2. Schrift (Teil 4)

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  2. – Schreiben – Sprechen
    ich spreche also z.b. Tisch
    dazu ordne ich den zeichen bestimmte laute zu.
    aber ohne den bereits in der schrift vorhandenen zeichenmix mit der festgelegten zuordnung zum bezeichneten objekt, würde das keinen sinn ergeben, es blieben geräusche
    insofern ist die gesprochene sprache der geschriebenen gegenüber nachrangig.

    – Codierung
    beim schreiben nehme ich eine Codierung vor. dazu bediene ich mich verschiedenster Code-Tabellen (steht das für ein „System“ ?) , es können loch m u s t e r sein, chinesische schriftzeichen (?), worte (nicht buchstaben) in einer bestimmten sprache und schrift ?

    – Artefakt
    wenn ich die gesprochenen schallwellen auf einen tonträger aufbringe, ist dies dann kein artefakt ?

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    • ja, viele Fragen, ich frage mich selbst 🙂
      Die letzte Frage zuerst: Schallwellen kann ich nicht auf einen Tonträger aufbringen. Das ist der ganze Witz meiner Darstellung! Ich kann beispielsweise eine Schallplatte machen. Das ist ein geformtes Ding aus Plastik. Das ist ein Artefakt! Der Sinn des Artefaktes ist wie bei Buchstaben, dass dmit ein Signal (hier akustisch, dort optisch) erzeugt werden kann. Artefakte sind geformet Dinger aus Material. Die Schallplatte ist eines meiner Lieblingsbeispiele 🙂

      Codierung – hmm ..

      Schreiben/sprechen … l’ecriture von J. Derrida … das sind ja nicht meine Ideen, sondern wie ich was gelesen habe 🙂 (im Bewusstsein, dass andere dasselbe gaaaanz anders gelesen haben

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      • –>Schallplatte
        also, die schallplatte ist ein geformtes ding aus plastik, mit dem signale erzeugt werden können, ein artefakt mit eben dieser funktion
        wo dein witz liegt Rolf, versuche ich noch zu ergründen. ich sehe beim schreiben von zeichen natürlich, dass das ganz direkt geschieht, während es beim bannen von schallwellen auf material vieler umwandlungsprozesse bedarf, vorwärts und dann wieder zurück.
        also müsste man (in diesem kontext hier !! 😉 ) sagen : geschriebene buchstaben und schallplatten sind zwar beides artefakte, aber sehr unterschiedlicher art ?

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        • hmmm … das ist das Thema meines Buches überhaupt 🙂
          Wenn ich die Plastik-Schallplatte als Artefakt betrachte, dann kann ich mich fragen, wie es hergestellt wird. DU schreibst, dass Schallwellen „gebannt“ werden … Ich schreibe, dass Plastik geformt wird. Das sind zwei ziemlich verschiedene Formulierungen und man könnte schon verstehen, wie sie je gegenseitig gemeint sind … Aber die Formulierung „Schallwellen bannen“ hat etwas mystisches hexenhaftes, Plasik formen ist eher handwerklich, oder ?

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          • ja, dass das das thema des buches ist, hab ich auch erfasst 😉
            ich möchte gern wissen, ob du meiner formulierung zustimmen kannst, wonach geschriebenes und die schallplatte ein artefakt sind, wenn man das formen eines materials in den blick nimmt.
            aber…..es sind ja völlig unterschiedliche arten von artefakten. wo ist der clou dieser ganzen sache ?

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            • Deine Frage ist mit meinen Unterscheidungen noch unklar. Ich setze mal einen einengenden Rahmen: Wenn ich als Geschriebenes mit einem Bleistift hergestelllten Text nehme, dann lese ich den Text ohne ein Abspielgerät. Wenn ich als Geschriebenes einen Text auf einer CD oder eine USB nehme, brauche ich zul Lesen ein Abspielgeräte. Die Plastikschalplatte kann ich gar nicht lesen. Ich kann sie hören, brauche dazu aber ein Abspielgerät – und zwar ein anderes als bei der CD oder dem USB.
              Die Artefakte sind verschieden, weil sie aus verschiedenem Material sind und verschiedene Formen haben. Das ist aber etwas anderes als deren Funktion, die sich in verschiedenen Abspielgeräten zeigt.
              Oder was meinst Du? Machst Du andere Unterscheidungen?

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              • soweit alles klar.
                zurück zu meinem lesen: ich war auf der suche nach dem worauf es dir ankommt und stiess auf den begriff „Artefakt“, erst einmal in bezug das mit der hand geschriebene. mir scheint jetzt, dass dieser begriff nicht die zentrale rolle oder eine andere einnimmt, als ich vermutet habe.

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                • für mich ist mein Begriff „Artefakt“ sehr zentral, ich bezeichne damit das Produkt des Handwerkes als geformtes Material. Das Problem ist mehr, dass das Wort „Artefakt“ in unglaublich vielen verschiedenen Arten verwendet wird, kaum zwei Menschen meinen das Gleiche damit. Aber das ist ja Thema des Buches: Privatsprachen 😉

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                  • ja, er ist zentral für dich, aber ich vermute, anders als ich das aufgefasst hatte. na vielleicht erhellt sich das noch im weiteren verlauf.
                    bei mir war der begriff garnicht besetzt, also von daher leide ich höchstwahrscheinlich unter keiner „verblendung“. mir ist sein stellenwert (hier gemeint mehr stelle als wert) noch nicht am richtigen ort, also nicht, dass ich den ort schlecht oder falsch finde, sondern dass ich ihm noch gar keinen geben kann 😉

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                    • hmmm … wenn Dir der Begriff bisher nicht besetzt war, könnte sein, dass Du nie nach einem Begriff für das Resultat von Handwerk gesucht hast – oder dass Du dafür einen ganz anderen Begriff hast?
                      Meine Erfahrung ist eben, dass das Handwerk generell tabuisiert / verdrängt wird, in der Schule kein Thema ist und dass damit verbunden auch die Produkte des Handwerkes nicht beobachtet und nicht bezeichnet werden. MAN sagt dann „Werk“, „Ding“ oder „Gegenstand“, was alles von handwerklicher Entstehung abstrahiert. Aber vielleicht hast Du eine andere Variante?

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                    • ich habe mich bisher damit begnügt, gebrauchsgegenstände als klasse oder dann die jeweiligen, z.b. einen Tisch als Tisch zu benennen. die längste zeit wurde ich erst bei gegenständen aufmerksam, die mit besonderer sorgfalt hergestellt wurden und in richtung kunsthandwerk gehen. bei ihnen interessierte mich dann die herstellungsweise. erst seit ein paar jahren interessieren mich schlichtweg alle „gegenstände“ und substanzen, mit denen ich täglich zu tun habe. ich überlege oft, wer da wie unter welchen umständen dran gearbeitet hat und staune zunehmend über die unmengen von material, die da in unseren umläufen sind.

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                    • ja, so etwa habe ich das gemeint. Wenn ich nicht bewusst das handwerkliche Herstellen im Kopf habe, sehe ich Gegenstände unabhängig davon, ob sie hergestellt sind – und brauche dann für die hergestellten keinen eigenen Namen.
                      Gregory Bateson fängt übrigens eines seiner Bücher mit der Aussage an, dass er sofort sehen könne, ob er etwas Hergestelltes oder etewas Natürliches vor sich habe. Sein Buch behandelt diese Unterscheidung, was ich sehr interessant finde. Er interessiert sich aber viel mehr für die natürliche Seite der Unterscheidung …

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  3. und was ist denn das ? 😉

    (bitte den 2. weglöschen, kann ich hier ja leider nicht selbst machen, danke)

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  4. o.k., ich fange nochmal von vorne an mit denken 😉

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  5. Pingback: Tele- zu -skop und -graph | Dialog

  6. „Wenn ich schreibe, stelle ich Artefakte her“
    ich weiß nicht. wenn chinesen, die unterschiedliche sprachen sprechen, dem jeweils anderen die bedeutung eines wortes erläutern, dann „schreiben“ sie sich das entsprechende zeichen in die handfläche. wo ist dann das artefakt?

    „Schreiben könnte ich unter den gegebene Voraussetzung auch, wenn ich nicht sprechen könnte. Mein Bedürfnis zu schreiben, wäre auch vorhanden, wenn mir die Voraussetzungen zum Sprechen – wie etwa den Menschenaffen – fehlen würden.“
    welche voraussetzungen meinen Sie hier? die physischen? dem menschenaffen fehlen die sprechwerkzeuge. selbst wenn er diese hätte, könnte er noch nicht sprechen.

    dass die schrift vor der sprache kommt, ihr zum mindesten aber nicht einfach nur folgt, sie nicht einfach nur abblidet, ist eine interessante, these, die dem common sense widerspricht.
    auch derrida vertrat sie. er beklagte die phono- und logo-zentrierte haltung der europäischen philosophie von platon bis heidegger.
    wie er das gemeint hat, siehe hier:
    http://www.texturen-online.net/campus/campustexte/derrida-i/

    ich versuche mal, das für mich zu übersetzen:
    „sprechen können“ ist für mich kennzeichen eines reflektierenden geistes: die fähigkeit, auf ZWEI unterschiedlichen schienensträngen GLEICHEITIG zu fahren, d. h. sie zu unterscheiden, ohne sie zu trennen:
    – in DINGEN / objekten zu denken einerseits (ich nenne das die technische seite von sprache; worte sind „festgehaltene verhaltenskoordinationen“, Maturana). das wäre die (unverzichtbare) „schrift-seite“ von sprache; sowie
    – in RELATIONEN zu denken andererseits (ich nenne dies die mimetische seite von sprache).

    ich gehe davon aus, dass der „erfindung“ der sprache (vielleicht vor 100.000 jahren?) eine viel viel längere mimetische phase vorausging. d. h. Menschen (wahrscheinlich auch bereits der neandertaler) koordinierten ihr verhalten nicht mittels worten, sondern im medium mimetischer schemata (mimik, gestik, körperhaltung, stimmlage).
    was dies zu einer vorform menschlicher spache macht, ist m. e. allein die fähigkeit der damaligen menschen, die beiden erwähnten seiten auseinanderzuhalten, also zu reflektieren. die mimetischen schemata stellen dann die „schrift-seite“ der sprache dar.

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    • „dass die schrift vor der sprache kommt, ihr zum mindesten aber nicht einfach nur folgt, sie nicht einfach nur abbildet, ist eine interessante, these, die dem common sense widerspricht“

      ich denke, dass diese formulierungen von „davor“ und „danach“ nur den blick auf die entwicklungsgeschichtliche perspektive zeigen und diese eben einerseits geprägt sind vom rückblick auf den individuellen erwerb des sprechens und schreiben-könnens und anderereseits von den veröffentlichungen der forschungsergebnisse bezügl. kleinstkindern und frühgeschichte, wie sie bis anhin präsentiert wurden.

      es braucht ein gerüttelt mass an anstrengung mich von dieser perspektive zu lösen und z.b zu erfassen, dass ein kind zwar zuerst sprechen und dann schreiben lernt, aber das sprechen lernen ohne die bereits kollektiv vorhandene schrift nicht möglich wäre …

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      • gerüttelt Mass ist gut 😉 Ich versuche das „davor/danach“-Schema als eine Möglichkeit zu sehen und dabei nicht nur beim einzelnen Menschen (als Kleinkind) sondern auch für DIE Menschen eher anzunehmen, dass sie zuerst „gesprochen“ haben. Aber das ist eine Folge meiner „davor/danach“-Perspektive, die eben meine Wahl ist, und so viel über mich und wenig über die Welt sagt.
        Der Witz, den ich hier erzähle, besteht gerade darin, eine andere Perspektive zu wählen und zu schauen, was dann passiert. Wenn ich das bewusst mache, rüttelt eigentlich nichts, ich merke nur, dass ich wählen kann

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      • noch mal zu der frage sprache / schrift und davor / danach.
        dass schrift erst vor ca. 5000 jahren erfunden wurde, sprache aber mindestens 100.000 jahre früher, ist nicht zu bestreiten.
        was also könnte dann derridas these vom primat der schrift aussagen?

        ich glaube, derrida bezieht sich mit seiner these auf das, was ich als die MIMETISCHE seite von sprache (und von leben überhaupt) bezeichne. mimesis meint (aus der INNEN-sicht) das (kybernetisch zu begreifende) sich-einschwingen eines systems auf irritationen aus seiner „umwelt“; das fortlaufende neu-generieren eines – das emotionieren anleitenden – inneren (vorstellungs-)bildes qua zweckfrei-spielerischer und regelloser variation der aus den irritationen gewonnenen / gelesenen muster.
        aus der AUSSEN-sicht eines beobachters erscheint das dagegen als zweck- und sinn-volles verhalten.

        Mimesis grenze ich von TECHNIK ab (im weitesten sinn verstanden). ich meine damit ein willkürliches unterbrechen eines ungreifbaren kontinuums und seine verwandlung in diskontinuierlich gegebenes, d.h. in handhabbare, unterscheidbare objekte – und dabei ein „GEDÄCHTNIS“ auszubilden, d.h. in iterativen rekursionen bestimmte verhaltens-koordinationen (-muster) festzuhalten.

        was hat das jetzt mit „schrift“ zu tun? ich glaube, derrida meint mit „schrift“ den physischen prozess des schreibens / zeichnens, das hier-und-jetzt sich vollziehende herstellen von artefakten (nicht das artefakt selbst). er will wohl – gegen die alteuropäische tradition – die übermacht der „idee“, des „logos“ beseitigen. er will das jeweils nicht-gesagte, nicht-geschriebene in den materiellen spuren lesen, die es hinterlassen hat.
        vielleicht ist das ja auch die absicht von rolf todesco.

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        • ich muss zugeben, dass ich J. Derridas Texte nicht gut aneignen kann, aber bei allem Unverständnis dünkt mich, dass er wie Sie nicht so sehr an Schrift in meinem engeren Sinne interessiert ist, sondern an etwas viel Umfassenderen, was Sie mit Leben und Autopoiesis umschreiben. Ich verstehe J. Derrida wohl ähnlich wie Sie.
          Da ich weder vor 5000 noch vor 100000 Jahren gelebt habe, habe ich kene Ahnung davon, was damals der Fall war. Ich will nicht bestreiten, aber ich würde nie sagen, dass vor x-tausend Jahren gesprochen wurde.
          Ich lese J. Derrida – wohl ganz gegen seine bewusste Intention ? – vielmehr so, dass erst die Schrift (jetzt in meinem Sinne) Sprache als Sprache ins bewusste Handeln bringt. Für mich jedenfalls liegt nicht die geringste Plausibilität in der Vorstellung, dass ich sprechen könnte, also diskrete Wortobjekte unterscheiden, ohne dass ich auch schreiben könnte. In den Geschichtsbüchern stehen Geschichten und Jahreszahlen. Das finde ich gute Unterhaltung. Meine Aneignung ist aber von Geschichten nicht betroffen. Ich beobachte Schrift im Hier und Jetzt – auch wenn ich narrativerweise da und dort Geschichten erzähle.
          Ja, ich könnte meine Absicht so charakterisieren, dass ich keinen Wert auf alteuropäische (ich sage philosophische) Ideen lege, mich interessiert meine Aneignung in einem ganz materiellen Sinn. Bei J. Derrida bin ich ganz unsicher, welche Differenz er vor seinem geistigen Auge hatte.

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          • damit sagen Sie, dass menschen erst „sprechen“ im eigentlichen sinn, wenn sie diskrete wortobjekte unterscheiden, oder?
            wie ist das dann, wenn ein steinzeit-schamane bewusst magische formeln spricht, um geister zu rufen etc.?

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            • 🙂 Steinzeitschamane – das ist eine gute Beschreibung für mich, aber wer was in der sogenannten Steinzeit gesprochen hat, weiss ich wirklich nicht – ich weiss nur, was in den Geschichten darüber erzählt wird, was aber eben Geschichten sind und zwar solche, die ich mit meiner eigenen Geschichte nicht plausibel abgleichen kann.
              Mir fällt gerade ein, dass ich als Kind die Bücher von Erich von Däniken gelesen habe. Diese Geschichten haben mir damals sehr eingeleuchtet. Heute sehe ich auch mehr die Geschichten.
              Und kürzlich habe ich das Buch von Ilmer über das fehlende Mittelalter gelesen. Ich versteh nicht, wieso ich irgendeine Geschichte anders als Geschichte sehen sollte – ich bin schaman

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          • jetzt haben Sie aber meine frage nicht beantwortet. ob es nun in der steinzeit schamenen gab oder nicht, aber Sie können sich doch sowas in der phantasie vorstellen, als gedankenexperiment: jemand, der nichts von schrift weiß, spricht eine magische formel. ich wollte doch nur wissen, ob das für Sie „sprechen“ ist.

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            • Wenn jemand – was auch immer – spricht, ist das tautologischerweise sprechen. Und wenn heute ein Kleinkind spricht, das noch nicht weiss, was schreiben oder was Text ist, ist das für mich genau in diesem Sinne sprechen.
              Sprechen ist eine Tätigkeit, die ich als deutender Beobachter wahrnehme. Ich kann in einer mehr konstruktiven Perspektive wahrnehmen, dass ganz bestimmte Zischlaute erzeugt werden. Ich muss also in jedem Fall entscheiden, was ich wahrnehme. Das schreiben Sie doch auch so. Es ist meine Beobachtung von aussen. Und wenn ich sprechen höre, dann weiss ich, dass es Schrift gibt. Gedankenexperimente sind mir suspekt, meistens müsste ich dabei irgendetwas, was für mich evident ist, ausser Acht lassen, um ein bestimmtes Resultat zu bekommen. Ich halte es lieber mit Experimenten.
              Im besagten Fall gibt es ja ausser Ihrem Schamanen und dem Kleinkind auch die Experimente von Turing und das chinesische Zimmer von Searle. Ich will auf beides noch zurückkommen – und dann auch erläutern, wie ich diese Experimente sehe 😉
              So richtig habe ich Ihre Frage damit natürlich nicht beantwortet, aber vielleicht ist die Differenz sichtbarer geworden?

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          • gut, das kind, das nichts von texten weiß, spricht. denn es unterscheidet konkrete wortobjekte.
            dann verstehe ich diesen satz nicht: „Für mich jedenfalls liegt nicht die geringste Plausibilität in der Vorstellung, dass ich sprechen könnte, also diskrete Wortobjekte unterscheiden, ohne dass ich auch schreiben könnte. „

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            • Dass das Kind spricht, ist MEINE Beobachtung (in Ihren Worten (?) die Aussensicht). Dass ich spreche, ist MEINE Beobachtung, da weiss ich nicht, ob Sie von Aussensicht sprechen würden.
              Als „Wortobjekte“ bezeichne ich geschriebenen Wörter die durch Abstände getrennt sind. Wenn ein Kind spricht, tönt es normalerweise kontinuierlich und ich mache Wörter daraus.
              PS Ich freue mich sehr über Ihre Erwägungen. Sie helfen mir klarer zu werden

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        • Rolf:“Wenn ein Kind spricht, tönt es normalerweise kontinuierlich und ich mache Wörter daraus.“
          uppsa
          und wie steht es mit den einwortsätzen ?
          sicher hat das kind kein zeichenbild und anfangs keine abstände im kopf, aber nach und nach lernt es doch bestimmte lauteinheiten voneinander abzugrenzen und sie gezielt einzusetzen. warum sollte ich das nicht worte und sätze nennen und das ganze nicht sprechen ?

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          • hmm… ich kenne keine Einwort-Sätze, die beschreibend sind. Ich sage dann und wann „ohhh“ oder „schööön“, aber das sind für mich keine Sätze. Und dieser Satz, dass das keine Sätze seien, ist ein Satz. Er wirft mich auf mich und auf meine Schrift zurück. Ich meine nicht, dass irgendein anderer Mensch diese Formulierung teilen sollte oder gar müsste.
            Worum ich mich hier bemühe (und sprachlich kann ich die Bemühung erkennen), sind die ich-Formulierungen, die ausschliessen, dass ich über andere Kinder als über mich spreche.
            Liebe moveonline, ich danke Dir für Deine Erwägungen. Ich probiere alle Deine Sätze in meine ich-Form zu bringen. Wenn es mir nicht gelingt, merke ich zuerst und vor allem, dass es MIR nicht gelingt. Ich finde die Idee solche Aussagen in der Schwebe zu halten wunderbar – und da sie hier geschrieben sind, sind sie sie in meinem Gedächtnis. Ich werde sie später wieder lesen und vieleicht dann besser aneignen können. Aber jetzt schon zeigen sie mir, wie beliebig meine aktuelle Perspektive ist:
            Allein schon „ich“ zu sagen, ist eine unglaubliche tat-Sache.

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            • – „einwortsätze“ das war jetzt riskant von mir, es ist umgangssprachlich und offenbar kennst du den begriff nicht ? Mama, Papa, WauWau. aber es ging ja um sprechen, obwohl ihr das ja schon erörtert hattet, habe ich mich nochmals auf diesen einen satz (! 😉 ) von dir bezogen und anschl. infrage stellen wollen, dass kinder, die nicht schreiben können, lautbandwörter „sprechen“, anfangs ja, zunehmend nein. wenngleich sich das bewusstsein des umgangs mit sprache sicherlich drastisch erweitert, wenn das schreiben hinzukommt. und das sicher auch rückwirkungen auf das sprechen hat. also bräuchten wir hier m.m. 2 unterschiedliche begriffe für sprechen,–> erfinden ? (analog z.b. den Inuit, die unzählige worte für schnee und eis haben) –
              deine „abgleichungspraxis und -haltung“ teile ich ja mit dir, zumindest in teilen, selbst wenn ich öfter „man“ schreibe anstatt „ich“.
              ja lieber Rolf, so schweben wir dahin, haha. und doch: was ich und du und wir hier versuchen, ist ja im grunde das gegenteil, oder besser gesagt, ein changieren zwischen umreissen und …..? –
              ja, die perspektiven und das Ich-Sagen, es dauert jahre, bis wir das das erste mal „ich“ sagen, um dann viele jahre später zu merken, dass …….
              🙂

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          • ja, eine Möglichkeit besteht darin, ein zweites Wort für sprechen zu erfinden, die krude Variante dazu wäre sprechen‘ oder sprechen* (Strich oder Stern). Eleganter finde ich die Variante mit Differenzen, die im Konstruktivismus Fuss gefasst hat. Ich sage dabei von welcher Unterscheidung ich spreche, wenn ich ein bestimmtes Wort verwende.
            „Einwortsatz“ ist nicht riskant, sondern eben ein Wort. Und die Frage ist, durch welche Differenz ich es ersetzen würde, wobei die Standarddifferenz „Nicht-Einwortsatz“ natürlich immer geht, aber nie gemeint ist.

            Das „ich“-sprechen ist für mich eine Methode oder eine künstlerische Technik. Sie macht eben bestimmte Sätze möglich und andere Sätze, die ich auch geneigt wäre zu sagen, unmöglich. Ich kann mich zwar nicht erinnern, wann ich das erste Mal ich gesagt habe, aber ich kann mich erinnern, wo und wann es mir abtrainiert wurde – und wo und wann ich – viele Jahre später – diese Option als Kunst wiedergefunden habe.

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            • „Das “ich”-sprechen ist für mich eine Methode oder eine künstlerische Technik. Sie macht eben bestimmte Sätze möglich und andere Sätze, die ich auch geneigt wäre zu sagen, unmöglich.“

              das klang in „Der Dialog im Dialog“ deutlich an. vielleicht werde ich in nächster zeit noch mehr dazu erfahren von dir.

              bei mir ist das „ich“ sprechen auch sehr wichtig. ich assoziiere damit verantwortlichkeit für meine sichtweise, das erkennen und anerkennen, dass es eben meine (gewordene aber im wandel befindliche) sichtweise ist.
              methode ist es für mich insofern, als ich es bewusst einsetze, haltung dagegen, weil ich mich damit identifiziere.
              und kunst ? hm, ja, im sinne von lebenskunst 🙂 –
              zu „möglich machen“ assoziiere ich entscheidung …

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        • „:-) Steinzeitschamane – das ist eine gute Beschreibung für mich, aber wer was in der sogenannten Steinzeit gesprochen hat, weiss ich wirklich nicht – ich weiss nur, was in den Geschichten darüber erzählt wird, was aber eben Geschichten sind und zwar solche, die ich mit meiner eigenen Geschichte nicht plausibel abgleichen kann.“
          ich habe tränen gelacht über euer gespräch 😉
          während manche abweichlerischen formulierungen von Rolf mir des öfteren quer in der speiseröhre hängen bleiben sind es andererseits diese, über die ich mich kugeln kann. vielleicht erkenne ich darin die gewissermassen absurde situation in der ich/wir mit unseren mehr oder weniger wissenschaftlichen geschichten stehen.
          immerhin scheint Rolf doch noch ein bestreben zu haben, diese und jene geschichten mit seiner eigenen in einer für ihn plasusiblen weise abzugleichen, respekt 😉 auch möchte er dabei auf das erzählen der geschichten von anderen nicht verzichten……..

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  7. sind mimetische schemata (z.b. gesichtsmimik), wenn sie in der kommunikation eingesetzt werden, artefakte? ich glaube eher nicht. ein artefakt wird draus, wenn es jemand z.b. in holz schnitzt oder sich auf die haut malt. vielleicht ist das der anfang von schrift?

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    • Lieber franzfriczewski

      herzlichen Dank für Ihre Anmerkungen.
      Wenn Chinesen sich in die Hände „schreiben“, schreiben sie nicht, sondern machen Gesten, die nur verstehen kann, wer schreiben kann. Natürlich ist meine Aussage daran gebunden, dass ich ich in meiner Sprache „schreiben“ so verwende. MAN kann den Ausdruck schreiben auch ganz anders verwenden, aber wir können nicht darüber streiten, wie MAN den Ausdruck verwenden sollte. Vielmehr scheint mir wichtig, dass jeder Beobachter sich selbst klar macht, wie er den Ausdruck verwendet.

      Ja, ich meinte physiologische Voaussetzungen, die den Affen fehlen und ich weiss nicht, ob sie sprechen könnten, wenn sie physiologisch dazu in der Lage wären. Ich vermute, dass sie es nicht könnten, oder dass man sie durch Dressur dazu bringen könnte, auf einer bestimmten Stufe zu sprechen, was unter den gegebene Bedingungen bislang nicht möglich ist.

      Besten Dank für den Link zum Derrida-Artikel. J. Derrida zieht zwar die Schrift der verbalen Aeusserung vor, aber er denkt trotzdem sprachphilosophisch, er hat kein Konzept von einem Artefakt. Ich teile Ihre Darstellung in der zweiten Anmerkung. Ein Artefakt ist etwas Hergestelltes, bei dem ich eine Material und eine Form wähle, Gesten wie Gesichtsausdrücke sind (in dieser Sprache) keine Artefakte, ich kann sie niemand anderem geben.

      Vielleicht verstehe ich nicht gut genug, was Sie ausdrücken, aber mir scheint, dass auch Sie in einer Art Philosophie die Sprache mit einem „Denken“ verbinden, dass Sie zwei Arten des Denkens unterscheiden. Vor allem aber, dass Sie über das Denken Aussagen machen. Ich versuche dagegen, das Denken nicht zu thematisieren. Ich meine nicht, dass ich nicht denke, ich meine, dass das Sprechen über das Denken eine traditionelle Möglichkeit darstellt (ich bezeichne das als Philosophie). Ich gehe einen anderen Weg.

      Ich wäre froh und dankbar, wenn Sie mir – wenn es dann eintreffen sollte – sagen, wo Sie meine Formulierungen nicht nachvollziehen können. Mir ist sehr klar, dass MAN und mithin auch Sie ganz anders formulieren kann, das ist aber gerade der Punkt, nämlich diese Kontigenz auszuweisen, nicht nur zu postulieren.

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  8. lieber rolf todesco,
    Ihre aussagen in den ersten drei absätzen teile ich.
    zum vierten absatz: ich unterscheide nicht zwei ARTEN des denkens, sondern zwei ASPEKTE. dieser unterschied ist mir wichtig.
    ich komme noch darauf zurück, ebenso auf Ihre frage im letzten absatz.

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  9. danke, nur kurz: ich finde den Unterschied auch sehr wichtig, ich habe nur nicht richtig formuliert. Ich meinte zwei ASPEKTE. Aber noch mehr meinte ich das DENKEN, das ich jenseits der aspekte nicht beobachten will.

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    • was wäre das denn: denken jenseits der (beiden) aspekte?

      übrigens: denken beobachte ich als eine rekursive verknüpfung von wahrnehmen und bewegen. ein denken in schemata, mustern oder zeichen ist für mich nicht denkbar ohne das ZEICHNEN des schemas etc. — und sei es nur in einer geistigen bewegung (die sich auf eine als-ob-körper-schleife stützt i.s. von damasio).
      kant: „Ich kann mir keine Linie, so klein sie auch sei, vorstellen, ohne sie in Gedanken zu ziehen, d.i. von einem Punkte aus alle Teile nach und nach zu erzeugen, und dadurch allererst diese Anschauung zu verzeichnen.“

      hier ein sehr schöner und lesenswerter artikel von sybille krämer:

      Klicke, um auf Operative_Bildlichkeit.pdf zuzugreifen

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  10. mir geht es gerade darum, NICHT über denken zu sprechen, also weder mit noch ohne Aspekte. Im kantschen Beispiel: vorstellen heisst für mich VOR die Augen stellen, während Kant wohl etwas hinter seinen Augen meint – hinterstellen 😉
    Die Bewegungen mache ich mit den Augen (nach Maturana beim Sehen sogar mit den Füssen), aber ich weiss, dass es dazu eine mentale Gegenwelt gibt (an welcher der kantsche Philosoph nicht unschuldig ist)
    Den Krämertext habe ich schon, trotzdem danke bestens

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    • vorstellen heißt für Sie offenbar: etwas vor die äußeren (physischen) augen stellen. für mich (und wohl auch für kant) heißt es: vor das innere auge stellen = ein-bildungs-kraft. es unterscheidet mensch von tier, dass ertserer das bewusst und gezielt tut. menschen erzeugen nicht nur ein bild von dem was IST, sondern auch von dem was SEIN KÖNNTE, also denken in möglichkeiten, in relationen.

      ich verstehe bisher noch nicht, warum Sie innere vorgänge (denken, einbildungskraft, physiologie) und äußere so absolut trennen wollen. was erhoffen Sie sich davon? wo soll Sie das hinführen?
      dass „man“ gut daran tut, außen und innen sauber zu unterscheiden (eine klare logische buchhaltung einzuhalten), dem stimme ich zu; Sie haben das ja auch sehr schön in Ihrem bateson-hund-artikel dargestellt.
      aber wenn man autopoiesis erklären / verstehen will, dann kommt man m.e. nicht drum herum, eine (allerdings niemals demonstrable) matrix zu unterstellen, in der beide perspektiven apriori miteinander vereinbar sind.
      wollen Sie denn autopoiesis nicht verstehen / erklären? („erklären“ hier im maturana`schen sinn gebraucht).

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      • ich fühle mich durch Ihren Beitrag sehr genau verstanden, sowohl in Bezug auf meine Vorstellungen als auch durch die Fragen, die sich dabei zeigen.
        Ich trenne so gut es mir möglich ist – im Sinne des Behaviorismus – das beobachtbare Verhalten von mentalen Begründungen dieses Verhaltens. Sie fragen: Wohin soll das führen? Das ist für mich die Frage zu meinem Experiment. Ich habe vorab keine Ahnung, wohin das führen könnte oder sollte, sondern will sehen, wohin es mich führt.
        Die Anordnung des Experimentes besteht darin, nicht über mentale Prozesse zu sprechen.
        Dazu schreiben Sie, dass man so die Autopoiese nicht verstehen/erklären könne. Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, dass ich dem irgendwie beistimme. Eine Differenz, die in der Blühtezeit des Radikalen Konstruktivismus immer für Unruhe gesorgt hat, ist die Differenz zwischen Autopoiese und Selbstorganisation. Ich vermute vor diesem Hintergrund, dass ich tatsächlich nicht mit der Autopoiesis befasst bin, also nicht die Autopoiese verstehen/erklären will, sondern eher herausfinden will, wohin es (mich) führt, wenn ich die mentalen Prozesse nicht beobachte.
        Ich habe darüber längere Gespräche mit Ernst von Glasersfeld geführt. Er hat immer betont, dass in seinem Konstruktivismus der mentale Prozess im Zentrum stehe, dass ich mithin einen ganz anderen Konstruktivismus verfolge – ja, ich tue es hier explizit, ohne zu sehen, wohin es führt.

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  11. dann unterscheide ich mich von herrn glasersfeld (und von Ihnen) darin, dass ich das mentale und das körperliche als zwei (sorgfältig zu unterscheidende, aber letztlich untrennbar zusammengehörige) seiten einer einheit sehe.
    ganz im sinne der embodiment-theorie, nur dass mir da der beobachter fehlt, die kybernetik zweiter ordnung.
    bzw. im sinne von g. bateson: geist und natur – eine notwendige einheit.

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    • nein, nein, das sehen wohl Ernst von Glasersfeld und ich auch so wie Sie. Die Differenz liegt eher darin, was wie zur Sprache kommen soll – bei einer gegebenen Einheit könnte es sein, dass die eine Seite besser darstellbar ist und das die andere Seite umsobesser mitgedacht werden kann, wo sie nicht selbst dargestellt ist.

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  12. damit unterstellen Sie, wenn ich das richtig verstehe, dass Sie mit Ihrer methode dann doch (irgendwann) zur einheit, sprich: autopoiesis, gelangen?

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    • nein, das ist gerade der Punkt: ich will das nicht vorwegnehmen. Es kann sein, ich weiss es nicht und will auch keine Hypothese dazu machen. Im Ideal von Newton: „Hypotheses non fingo“ – Ich erfinde keine Begründungen.

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  13. und wenn ich mich so korrigiere: „…dann doch (irgendwann) zur einheit, sprich: autopoiesis, gelangen KÖNNTEN?“ – verstehe ich Sie dann richtig?

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    • 🙂 KÖNNTEN – ja im Sinne einer Kontigenz aber nicht im Sinne einer Erwartung. Oder MAN kann lesend die Kontingenz sehen oder damit eine Erwartung verbinden. Das ist dem „ich“ des Lesenden anheim gestellt. Jeder Leser entscheidet, was er da liest. Und ich bin ein Leser wie jeder andere ohne irgendwelche Privilegien bei der Interpretation.

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      • da kommen wir uns nahe. ich unterstelle ja auch nur die MÖGLICHKEIT, dass beides apriori zusammenstimmt.
        ich kann diese einheit, die „existenz“ der matrix, nicht beweisen / demonstrieren. jeder kann sie nur selber in das gegebene (hinein-)“lesen“.

        und ich kann das aber erleichtern: ich stoße auf diese matrix, wenn ich lebende systeme doppelt beobachte
        a) von innen: als kybernetisches produkt einer iterativen, rekursiven verknüpfung von sensorik und motorik (oder von kognition und volition); und
        b) von außen: als dissipative strukturen (= systeme, die bei gegebenen randbedingungen ordnung aus chaos erzeugen), die ihre eigenen randbedingungen (ihre nische) SELBST erzeugen, indem sie – per thermodynamik und selbstorganisation – muster suchen und finden, die ein minimum an resourcenverbrauch mit einem maximum an anschlussmöglichkeiten verbinden.

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        • Ob und für wen diese doppelte Beschreibung eine Erleichterung ist, ist eine praktische und mithin auch eine experimentelle Frage. MAN muss diese Beschreibung anfertigen und dann schauen, wohin das führt. Mir würde es nicht leicht, sondern sehr schwer fallen, eine solchen Beschreibung zu machen. Ich wähle eine Beschreibung, die ich leicht machen kann – wobei ich nicht vorab entscheide, ob diese Beschreibung zu einem sinnvollen Verständnis führt. Das ist das Experiment.
          Meine Art des Beschreibens fällt mir deshalb leichter, weil ich dabei auch kein autopoietisches Wesen, das ich verstehen möchte, voraussetzen muss. Ich beschreibe, was ich mache, im vorliegenden Fall, was ich mache, wenn ich einen Text herstelle. Dabei reflektiere ich mein eigenes Verhalten. Das KÖNNTE mir helfen, mich zu verstehen – je nach Ausgang des Experimentes.
          PS MAN muss die Beschreibungen machen, ich lese gerne davon. Ich folge https://technikundmimesis.wordpress.com/ kann da aber noch nichts finden.

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          • danke für den hinweis auf technikundmimesis. ich habe mich bisher noch nicht dazu aufraffen können, mich in die technik des blog-arbeitsn einzuarbeiten. ich werde es vielleicht bald mal tun.
            auf meiner homepage
            http://www.das-muster-das-verbindet.de/kybernetik-zweiter-ordnung/
            finden sich aber scon texte.

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            • 🙂 Ich habe natürlich etwas eigennützig auf Ihren Blog verwiesen, weil ich mein Experiment gerne etwas umfassender sehen würde als nur in meinem Blog. Mir schwebt eine Textproduktion vor, in welcher viele Verknüpfungen und Verlinkungen möglich sind, die aber nicht so primitiv ist, wie die Wikipedia, wo gemeinsame Wahrheiten gefunden werden müssen. Ich stelle mir vor, dass künftig „Bücher“ nicht mehr als fertige Monograhien gedruckt werden, sondern dass sie herbeigebloggt und in ihrer Entstehung beobachtet werden.
              Inwiefern diese Blog-Software dazu taugt ist auch eine Frage des Experimentes. Einen etwas anderen Ansatz wird auf https://sobooks.de/ verfolgt, der aber wohl auch nicht so rasch aus den Kinderschuhen kommen wird, mal davon abgesehen, dass dort Leser nicht Schreibende angesprochen werden.
              Gewöhnliche Homepages sind zu „home“ und diese BlogSoftware ist wenigstens ohne Aufwand zu bedienen.

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      • ich habe das gefühl. „möglichkeit“ meint mehr als nur „kontingenz“. eher im sinne eines potentials. entfaltung eines größeren reichtums an leben.

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  14. was mir gerade auf- oder einfällt: das wort „beschreiben“ meint ja eigentlich nicht, dass man mit der hand zeichen auf ein medium „schreibt“, sondern lediglich, dass man das mundwerkzeug in bewegung setzt, und zwar so, dass ein anderer dem intendierten (in ihrer einbildungskraft) irgendwie folgen kann, sodass beide ihr verhalten koordinieren können.
    das, was nach maturana den „beobachter“ auszeichnet, ist, dass er „beschreibungen“ von gegenständen geben kann.

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    • ja, jetzt wo Sie das so sagen und ich völlig zustimme, fällt mir auf, dass das eine recht eigentümliche Wortverwendung von „be-schreiben“ darstellt. Ich finde interessant, dass sich ausgerechnet dieses Wort dafür eingebürgert hat.
      Und jetzt realisiere ich auch, dass ich Gegenstände, vorab Artefakte „beschreibe“, aber viele Verhältnisse „berede“ (über Leute reden) – und dass ich vor Gericht „Aussagen“ mache.

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